Holm tritt ab, um Rot-Rot-Grün und seine Vision einer sozialen Stadt zu retten.

Berlin. Um die rot-rot-grüne Koalition in Berlin zu retten, erklärte am Montag der Staatssekretär für Wohnungsbau und renommierte Stadtforscher Andrej Holm seinen Rücktritt. Er war in den vergangenen Wochen zunehmend unter Druck geraten, weil er eine fünfmonatige Ausbildung beim Ministerium für Staatssicherheit, die er mit 19 Jahren begonnen hatte, bei seinem ehemaligen Arbeitgeber, der Humboldt-Universität, im Jahre 2005 nicht angegeben hatte – zuletzt hatte der regierende Bürgermeister, Michael Müller (SPD), die Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) aufgefordert, Holm zu entlassen.

Müller verletzte damit eine Abmachung, der nach der Senat erst über die Zukunft Holms entscheiden wollte, nachdem die Humboldt Universität am kommenden Mittwoch über Holm befunden haben würde. Seiner Entlassung kam der Gentrifizierungsgegner nun zuvor. In einer Presseerklärung schreibt er: „Ich trete heute von meinem Amt als Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zurück.“

„In den letzten Tagen haben mir SPD und Grüne deutlich gemacht, dass sie mich als Staatssekretär politisch nicht unterstützen. Herr Müller von der SPD forderte öffentlich meine Entlassung. Damit wurde eine mögliche Zusammenarbeit in einer Koalition aufgekündigt. Die Koalition selbst steht an einem Scheideweg.“

„Heute ziehe ich eine Reißleine,“ so Holm weiter. Der Koalition in Berlin hält er vor, den versprochenen Aufbruch in eine neue Stadtpolitik noch nicht wirklich begonnen zu haben. Es sei jedoch „absurd“ das an seiner Personalie festzumachen. Auch die Parlamentsdebatte um das beschlossene Sicherheitspaket, in der SPD-Fraktionsvorsitzender Raed Saleh unter Applaus von AfD und CDU, dem Bürgermeister – und dem rot-rot-grünen Senat Unehrlichkeit unterstellte, sowie der mehrfache Bruch von Abmachungen zwischen den Koalitionspartnern zeige, so Holm, dass die Koalition schon wenige Wochen nach ihrem Zusammenschluss in der Krise sei.

„Ich werde der zerstrittenen SPD nicht den Gefallen tun, sie auf meinem Rücken zerplatzen zu lassen.“ Der Staatssekretär erklärt damit, dass ihm das „bitter nötige Reformprogramm für die Berliner Wohnungspolitik“, das er durchsetzen wollte, als er vor fünf Wochen antrat, wichtiger ist, als sein Amt.  „Denn eines ist klar: Diese Stadt braucht eine Politik für die Mieterinnen und Mieter. Es muss Schluss sein mit einer Politik, die weiter die Profitinteressen der Immobilienbranche an erste Stelle setzt. Für diese Aufgabe bin ich mit den Hoffnungen, dem Vertrauen und der Unterstützung von vielen Berliner Stadtteil- und Mieteninitiativen, von kritischen WissenschaftlerInnen und der Partei DIE LINKE angetreten.“

Holm hält auch an der Position fest, dass es bei der Entlassungsforderung eben nicht, wie öffentlich dargestellt, um seine kurze Stasi-Laufbahn oder „falsche Kreuze in Fragebögen“ ging, sondern vor allem um die Angst der Immobilienlobby vor radikalen Veränderungen in der Stadt- und Wohnungspolitik.

Im Rahmen seiner Rücktrittserklärung bedankte sich Holm auch für „unglaublich viel Unterstützung von der Stadtgesellschaft, aber auch von Wählerinnen und Wählern“. Unterstützer des Soziologen hatten in den vergangenen Wochen über 16.000 Unterschriften gesammelt, um ihn im Amt zu halten. Das habe ihm die Kraft gegeben, die Auseinandersetzung um seine Person überhaupt so lange durchzuhalten. Die vielen Unterschriften seien aber auch ein Zeichen dafür, wie weit die öffentliche Darstellung und die Stimmung der Stadtgesellschaft auseinander liegen: „Ich stehe nicht nur den Hausbesetzern näher als vielen privaten Investoren sondern vor allem den Mieterinnen und Mietern dieser Stadt. Gerade deshalb hat es so viel Unterstützung für mich gegeben.“

Weiterhin wehrt sich der scheidende Staatssekretär gegen die Behauptung vieler Medien, er sei nicht schon früher selbstkritisch mit seiner Biographie umgegangen. Andrej Holm machte öffentlich in den vergangenen Jahren nie einen Hehl daraus, kurzzeitig bei der Stasi beschäftigt gewesen zu sein. Es sei zudem allen drei Koalitionspartnern vor seiner Ernennung bekannt gewesen, dass er eine Stasi-Vergangenheit habe.

Übrigens könne er nicht verstehen, dass nun Regierungsmitglieder „frohlocken“, man könne nun endlich mit der Regierungsarbeit beginnen, schließlich habe man in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen längst angefangen zu arbeiten – und auch schon Ergebnisse erzielt: So wurden die Mieterhöhungen im alten sozialen Wohnungsbau ausgesetzt, es wurde eine Initiative zur Verschärfung der Umwandlungsverordnung für den Bundesrat qualifiziert, die Basis für eine Reform des alten sozialen Wohnungsbaus gelegt und über soziale Neuausrichtung der landeseigenen Wohnungsunternehmen diskutiert. „Ich trete heute zurück, damit diese Politik weitergeführt werden kann, denn es gibt noch einiges zu tun.“

Besondere Schwerpunkte seien dabei – auch gemäß Koalitionsvertrag – nach wie vor:
– die Reform der AV Wohnen, so dass in Zukunft Hartz-IV-EmpfängerInnen nicht mehr durch Mieterhöhungen aus ihren Wohnungen vertrieben werden können,
– die Reform des sozialen Wohnungsbaus, so dass dieser seiner Aufgabe wieder gerecht wird,
– eine soziale Neuausrichtung der landeseigenen Wohnungsunternehmen und mehr Mitbestimmung für die MieterInnen,
– wirksame Maßnahmen gegen die steigenden Mieten auf dem freien Wohnungsmarkt,
– einen Stopp der Verdrängung einkommensschwacher Bewohner.

Der Soziologe erklärte gleichzeitig, er werde sich auch weiterhin außerhalb eines Regierungsamtes für diese im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag festgeschriebenen Ziele stark machen. Und lud Interessierte und wohnungspolitische Initiativen noch für den selben Abend zur öffentlichen Diskussion über soziale Wohnpolitik ein.


Anmerkung der Redaktion: Die Veranstaltung mit Holm findet am Montagabend um 18 Uhr statt. Ort: ExRotaprint, Gottschedstraße 4, 13357 Berlin (Wedding).

Wir bedauern den Rücktritt Holms, und wünschen uns für die BerlinerInnen und Berliner, dass DIE LINKE in der Koalition weiterhin entschieden gegen die Immobilienlobby und die Gentrifizierungsgewinnler in der SPD vorgeht und für eine soziale Wohnungspolitik streitet.

Die unerträgliche Bigotterie um Andrej Holm – oder warum ein Nazi Bundeskanzler werden durfte, ein Sozialist aber nicht Staatssekretär.

Berlin. Um die historische Bigotterie annähernd erfassen zu können, die hinter der Demontage des linken Staatssekretärs für Wohnungsbau in Berlin, Andrej Holm, steckt, muss man nicht nur die jetzige Situation der SPD betrachten, auch ein Blick in die Vergangenheit lohnt sich, denn nicht immer hatte man bei CDU und SPD so hohe Ansprüche an die Vergangenheit von Regierungsmitgliedern, so war der dritte Bundeskanzler dieses Landes gar ein Mann, über dessen NS-Vergangenheit später ganze Bücher geschrieben würden.

Als Georg Kiesinger, ein ehemaliges SA-Mitglied, ein Mann, der sich laut Gerichtsakten einst „angesteckt von der NS-Ideologie, von einer starken Deutschtümelei und einem starken Nationalbewußtsein infiziert“ begeistert den Nationalsozialisten anschloss, am 1. Dezember 1966 zum Bundeskanzler der ersten großen Koalition der Bundesrepublik wurde, war der zweite Weltkrieg noch nicht so lange her, wie heute der Mauerfall. Weder aus der Union noch aus der SPD Führung gibt es Überlegungen, dem ehemaligen NSDAP-Blockwart aufgrund seiner Nazi-Vergangenheit das höchste Regierungsamt der Republik vorzuenthalten.

Kiesinger war, als er 1933 bereitwillig in die SA und in die NSDAP eintrat, 29 Jahre alt; Andrej Holm war 19 Jahre alt, als er 1989 eine Stasi-Karriere einschlagen wollte. Ersterem stand seine Nazi-Vergangenheit später nie im Wege – schon 1948 lässt er sie gerichtlich (entgegen jeder historischen Realität) bereinigen; zweiterem wird seine kurze Stasi-Laufbahn nun zum Verhängnis. Auch, weil der sozialdemokratische Bürgermeister es nicht wagt, sich zu ihm zu bekennen. Die Doppelmoral ist unerträglich!

Im Rahmen einer – ziemlich durchsichtigen – Kampagne zur Denunziation des linken Gentrifizierungskritikers, kam in den vergangenen Wochen immer wieder auch die Frage auf, ob jemand, der – in diesem Falle nur indirekt – eine Mitschuld an der Stasi-Überwachung trägt, in der Bundesrepublik ein hohes politisches Amt haben darf. Die Antwort, so scheint es, lautet nein – zumindest, wenn man überzeugter Sozialist ist.

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Gentrifizierungsgegner Andrej Holm (2011)

Offiziell wird Holm allerdings nicht aufgrund seiner kurzen Stasi-Vergangenheit, sondern aufgrund „seines Umgangs“ damit, nun zum Rücktritt gezwungen. Auch von Personen, die – als Anwälte von Immobilienbesitzern – klare Gentrifikationsgewinnler sind, solche Verstrickungen scheinen aber bei SPD und CDU niemanden besonders zu kümmern. Schließlich ist man sich mittlerweile einig: Holm muss weg!

Hintergrund: Am kommenden Mittwoch will die Humboldt-Universität darüber befinden, inwieweit Holm bei seiner Anstellung als Stadtsoziologe im Jahre 2005 die Unwahrheit über seine Stasi-Vergangenheit angab. Gegenüber der Hochschule verneinte Holm damals, als hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi beschäftigt gewesen zu sein – er tat dies auf einem Fragebogen, der nur die Optionen „Ja“ und „Nein“ zuließ. Einzelfallbewertungen waren nicht vorgesehen. Rücksicht für einen Teenager in einem repressiven System war nicht vorgesehen.

Der Prüfung durch die Universität kam am Samstag jedoch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) zuvor, indem er Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) aufforderte, dem rot-rot-grünen Senats in seiner Sitzung am kommenden Dienstag vorzuschlagen, den Baustaatssekretär Andrej Holm zu entlassen.

Die Linke gab jedoch an, dass es dazu nicht kommen werde, Holm werde selbstständig zurücktreten, hieß es. Bis Samstagabend meldete er sich jedoch nicht zu Wort.
Am Ende der Debatte bleibt – jenseits aller Bigotterie – die Frage, was wir – als Gesellschaft – von unseren Vertretern in der Politik erwarten. Eine Frage, die so einfach nicht zu beantworten sein wird.

Sicher: Wir erwarten Ehrlichkeit. Doch wie hätte Holm damals ehrlich antworten sollen? Inwieweit ist es ehrlich, wenn ausgerechnet ein Anwalt der Gentrifizierungsindustrie, den Angriff gegen den politischen Gegenspieler – der in diesem Falle Teil der selben Landesregierung ist – führt? Wieviel Ehrlichkeit steckt in einem Fraktionsvorsitzenden, der in seinem Machteifer bereit ist, seinen Parteigenossen und Bürgermeister, dem er den Parteivorsitz abjagen will, sowie die Koalition, in der er Mitglied ist, im Plenum bloßzustellen? Und inwiefern ist es ehrlich, wenn dieser Bürgermeister, der in der eigenen Partei um Kontrolle kämpft, dann einen Staatssekretär über die Klippe springen lässt, um Stärke gegenüber den Gegnern in der eigenen Partei zu demonstrieren?

Wenn die SPD, die einst einen Mann zum Bundeskanzler machte, der bewusst seine Nazi-Vergangenheit verschleierte, heute sprichwörtlich über Leichen geht, und durchzogen ist von systemischer Korruption und innerem Machtgerangel, kann man ihr dann abnehmen, dass es ihr in der Beurteilung der Schuld oder Unschuld eines Teenagers in der Wendezeit nur um Ehrlichkeit geht? Sicher nicht!

Tatsächlich ist es nämlich nicht die emblematische „Affäre Holm“, sondern die allgemeine Uneinigkeit der links-moderaten Kräfte – und der SPD selbst, an der die rot-rot-grüne Koalition, nur sechs Wochen nachdem sie angetreten war, die Hauptstadt und ihre politische Kultur zu verändern, zu zerbrechen droht.

Soweit will es wohl Vize-Regierungschef Klaus Lederer (Linke) nicht kommen lassen, er will die Koalition retten. Alle Beteiligten müssten sich nun nochmals darüber verständigen, wie sie miteinander umgehen wollen, erklärte der Kultursenator im RBB. „Das war jetzt ein ganz schlechter Start. Und jetzt hoffe ich, dass wir tatsächlich dazu kommen, uns zu verständigen, wie wir die Stadt voranbringen.“ Mit dem Vorgehen Müllers zeigte sich Lederer nicht einverstanden: „Herr Müller hat uns informiert, dass eine Erklärung kommt. Das sie heute kommt, wussten wir nicht.“ Die Linke stünde nun, so Lederer, vor einer harten Entscheidung: „Entweder entscheiden wir uns für Andrej Holm oder für R2G“ – also dem Fortbestand der rot-rot-grünen Koalition. Am Ende fiel offenbar die Entscheidung für die Regierungsbeteiligung und für den Rücktritt Holms aus.

Abschließend ist festzustellen, dass Jugendsünden an Linken immer länger zu kleben scheinen als an allen anderen, so konnte der „begeisterte“ Nazi Kiesinger zum Bundeskanzler werden und so wurde nach der Wende über die FDJ-Vergangenheit der Angela Merkel nie wieder debattiert, während Andrej Holms politische Karriere wegen wenigen Monaten bei der Stasi ihr Ende findet und sich Gregor Gysi vor jeder Wahl mit Anschuldigungen zu seiner angeblichen – aber nie belegten – Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter der selben Behörde auseinander setzen muss. Man könnte beinahe ein Muster erkennen.


Anmerkung der Redaktion: Folgendes Statement wurde von der Linken in Berlin noch am Samstag veröffentlicht:

Gemeinsame Erklärung der Landesvorsitzenden der Partei DIE LINKE. Berlin, Katina Schubert und der Vorsitzenden der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Carola Bluhm und Udo Wolf:

Die heutige Erklärung des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller kam für uns zum jetzigen Zeitpunkt sehr überraschend. Wie schon vor der Senatsklausur versucht ein Koalitionspartner, die anderen Koalitionspartner über die Öffentlichkeit zu Entscheidungen zu zwingen. Das erschwert die Suche nach gemeinsamen Lösungen. Im Vertrauen auf die von Michael Müller und Katrin Lompscher in der Fragestunde des Abgeordnetenhauses abgegebenen Erklärungen zum weiteren Verlauf sind wir davon ausgegangen, dass im Rahmen einer koalitionsinternen Beratung eine Entscheidung gemeinsam erfolgt.

Andrej Holm hat unser Vertrauen. Wir haben ihn als anerkannten Experten gebeten, als Staatssekretär Verantwortung für einen rot-rot-grünen Neuanfang in der Mieten- und Wohnungspolitik zu übernehmen.

Wir wissen um die polarisierte Debatte in der Stadt zum Start der rot-rot-grünen Regierung und ihre Zuspitzung um die Bewertung der Personalie Andrej Holm. Wir wissen auch um die große Bandbreite der Bewertungen, Einschätzungen und Erwartungen innerhalb der Koalition. Gerade deshalb ist es notwendig, dass die Koalition sich an das im Koalitionsvertrag verabredete Verfahren im Falle unterschiedlicher Auffassungen und Konflikte hält. Nur so wird eine konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Koalition über eine gesamte Legislaturperiode möglich sein.

Mit der Aufforderung an Senatorin Katrin Lompscher, ihren Staatssekretär Andrej Holm zu entlassen, hat der Regierende Bürgermeister die ohnehin schwierige Situation leider verschärft. Wir werden unser weiteres Vorgehen in dieser Frage intern und innerhalb der Koalition weiter beraten.

SPD auf Wahlkampftour: Erleichterungen bei Sozialabgaben.

Berlin. Ein Spiel beherrscht die heutige SPD wohl wie keine andere pseudo-linke Partei der Erde: Wann immer Wahlen anstehen kann sie binnen Augenblicken umschalten von einer neoliberalen Industriepartei auf eine populistische Volkspartei – zumindest für die Öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang ist auch der jüngste Vorschlag zu sehen, Freibeträge bei den Sozialabgaben einzuführen.

SPD-Parteivize Thorsten Schäfer-Gümbel nannte dies in der „Rheinischen Post“ vom Montag eine Möglichkeit, um Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen finanziell zu entlasten. „Ein Freibetrag für Sozialabgaben analog zum Steuerfreibetrag wäre ein Instrument, das wirklich hilft“, erklärte er. Haushalte mit niedrigen Einkommen seien nämlich überproportional stark von Sozialabgaben belastet. „Auch eine Reduzierung der Sozialabgaben für Familien mit Kindern wäre denkbar“, fügte der SPD-Politiker hinzu.

Der Vorschlag ist durchaus vernünftig, und in anderen Ländern werden ähnliche Systeme, bei denen Niedriglöhner beispielsweise für die öffentliche Krankenversicherung gar nichts bezahlen müssen, mit Erfolg angewandt, diese Länder haben aber in der Regel keine sogenannte „Beitragsbemessungsgrenze“, in diesen Ländern gibt es in der Regel auch nur ein Versicherungssystem. In Deutschland könnte ein solches System nur dann finanziell funktionieren, wenn jeder Bundesbürger im gleichen Maße in das System einzahlen würde (geringere Einzahlungen durch Niedriglöhner müssten schließlich ausgeglichen werden).

Ob dieser Vorschlag allerdings die beste Variante ist, das öffentliche Gesundheitswesen gerechter auszurichten, ist fraglich – vielleicht würde es auch schon genügen, den Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben zu erhöhen, während man den Arbeitnehmeranteil senkt. Gerade bei Menschen mit kleineren und mittleren Einkommen würde dieser – deutlich kleinere – Schritt essentielle Erleichterungen bewirken.

Schäfer-Gümbel sieht im heraufziehenden Wahlkampf „eine große, mutige Einkommensteuerreform“, die die Bezieher von niedrigen und mittleren Einkommen entlastet, als einen der Schwerpunkte für seine Partei. Zur Gegenfinanzierung will er unter anderem Steuerbetrug wirksamer bekämpfen. „Hilfreich wäre dabei eine Art Finanz-TÜV“, sagte Schäfer-Gümbel. Unternehmen, die ein neues Steuersparmodell anwenden wollten, müssten es sich erst vom Staat genehmigen lassen. Außerdem pocht er auf „eine leistungsgerechtere Beteiligung höherer Einkommen und Vermögen“.

Kein Wahlomat in Mecklenburg-Vorpommern, weil er CDU und SPD zu „einfach“ ist.

Schwerin. Gerade junge Wähler befassen sich vor Wahlen erst über den sogenannten Wahlomaten mit den Positionen von Parteien. Das System ist einfach: Den Parteien wird eine Reihe von Fragen zu aktuellen Themen der Politik zugesandt, welche diese beantworten sollen, dann werden die Antworten dem System gefüttert, wobei ein es ein binäres Antwortsystem gibt (Parteien antworten auf geschlossene Fragen mit Ja oder Nein und können eine Begründung abgeben). Der geneigte Wähler beantwortet die selben fragen dann ebenfalls (mit ja oder nein), und zum Schluss ergibt sich ein Bild davon, mit welchen Parteien man am meisten übereingestimmt hat.

Genau diese Einfachheit prangern CDU und SPD in Mecklenburg-Vorpommern nun jedoch an: „Der Wahlomat reduziert komplexe Fragen der Politik auf einfache Antworten und ist daher als ein Instrument der politischen Entscheidungshilfe ungeeignet“, sagt SPD-Landesgeschäftsführer Marcus Unbenannt. Der Wahlomat gaukle eine Einfachheit vor, die nicht echt sei, so Unbenannt. Die beiden Parteien verweigerten deshalb ihre Mitarbeit am Wahlomaten, weshalb es wohl im Nordosten nicht stattfinden wird.

Tatsächlich simplifiziert das System politische Themen insbesondere durch die geschlossenen Fragen, es gibt nur ein dafür, oder ein dagegen, Differenzierungen können kaum vorgenommen werden. Dennoch: Ist es nicht besser, Erstwähler prüfen, wenngleich unzureichend, wo sie ihr Kreuz machen sollen, ehe sie es tatsächlich machen? Wer sich grob mit Parteiprogrammen und -Positionen befasst hat, weiß immer noch mehr, als jener, der sich gar nicht im Vorhinein mit der Wahlentscheidung befasst hat.

Hinzu kommt der Unterhaltungsfaktor es Wahlomaten, den wir bei Parlamentswahlen nicht mehr missen wollen. Deshalb: Liebe SPD, liebe CDU, das war die falsche Entscheidung, schließlich wird es euren Wahlergebnissen nicht gerade gut tun, wenn ihr eure Wähler so offensichtlich für blöd verkauft. Der Wahlomat ist gedacht als erste Orientierungshilfe für Jungwähler, als solche funktioniert er wunderbar, auch ohne tiefste Differenzierungen.

Steinbrück kündigt Rückzug an, und ist doch längst gegangen…

Der frühere Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidat der SPD im Jahr 2013, Peer Steinbrück, zieht sich aus der Politik zurück. Der 69-Jährige teilte am Freitag in Berlin mit, er werde Ende September und damit etwa ein Jahr vor der Bundestagswahl sein Abgeordnetenmandat zurückgeben.

Kaum ein anderer noch aktiver Politiker symbolisiert in der gleichen Weise den neoliberalen Schwenk der deutschen Sozialdemokratie und kaum ein anderer wird von der SPD-Basis im gleichen Maße für deren Demontage verantwortlich gemacht. Steinbrück gehört zu den unbeliebtesten Politikern der Bundesrepublik, kaum jemand wird dem Politiker, der nur dem Namen nach ein Sozialdemokrat war, nachtrauern, sein angekündigter Rückzug ist nur mehr Formsache. Tatsächlich trat der Ex-Finanzminister schon nach der Bundestagswahl 2013 von der politischen Bühne ab, nachdem er sich selbst schon im Vorfeld als möglichen Bundeskanzler ausgeschlossen hatte.

Parteiämter hatte Steinbrück danach nicht mehr übernommen. „Ich habe mich nach der Bundestagswahl 2013 mit öffentlichen Äußerungen weitgehend aus tagespolitischen Themen herausgehalten“, erklärte er am Freitag. „Gleichwohl werde ich der SPD weiterhin mit Rat zur Seite stehen, wann immer sie das wünscht.“ Das dies geschieht dürfte unwahrscheinlich sein. Insbesondere die Parteiführung unter Sigmar Gabriel war nach der Wahl 2013 schnell auf Abstand zum SPD-Spitzenkandidaten Steinbrück gegangen.

Den kuriosen Zeitpunkt seines Abschiedes aus dem Bundestag begründete Steinbrück damit, dass das Parlament jüngst die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung beschlossen habe. Mit dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens sehe er seine persönliche Verpflichtung als erfüllt an, zur Gründung der Stiftung beizutragen. Derzeit wird von einer Berufung des Sozialdemokraten, der ein persönlicher Freund des populären Exkanzlers Helmut Schmidt war, in das Stiftungskuratorium berufen werden soll. Auch deshalb dürfte er nun endgültig sein Mandat niederlegen, wenngleich die politische Integrität gebieten würde, das letzte Jahr noch „abzusitzen“.

Als weiteren Grund für seinen Rückzug nennt Steinbrück den aufkommenden Bundeswahlkampf selbst, für den er sich nicht gewappnet sieht. Vielleicht hat ja auch die Parteiführung ihn gebeten, sein Mandat nieder zu legen, um peinliche Erinnerungen an den Wahlkampf 2013 zu minimieren? Und selbst seinen wenigen verbliebenen Freunden in der SPD, dürfte die Ankündigung des Politikers keine Tränen abverlangen, muss doch auch ihnen klar gewesen sein, dass die politische Karriere Steinbrücks spätestens mit am Wahlabend 2013 beendet war.

Wer hat uns verraten? Wenn ein Konservativer ausgerechnet einen Sozialdemokraten unterstützt.

Wer hat uns verraten? EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker setzt sich offenbar derzeit für eine Verlängerung der Amtszeit ausgerechnet des Sozialdemokraten Martin Schulz als EU-Parlamentspräsident ein. Gleichzeitig will er den polnischen Konservativen Donald Tusk weiter an der Spitze des Europäischen Rates sehen.

Juncker, dessen Amtszeit bis Oktober 2019 dauert, plädierte in einem Interview mit dem „Spiegel“ dafür, „dass die europäischen Institutionen in den nächsten zweieinhalb Jahren so weitergeführt werden wie bisher. Wir brauchen Stabilität.“ Damit stellt Juncker, selbst Mitglied der konservativen „Europäischen Volkspartei“ (EVP) einmal mehr Vereinbarungen zwischen den beiden großen Parteien im Europaparlament in Frage, diese hatten sich ursprünglich darauf geeinigt, dass der SPD-Politiker Schulz im kommenden Januar seinen Posten zugunsten eines konservativen Kandidaten räumen sollte. Auch die Parteispitze der CDU, die wie ihre bayrische Schwesterpartei CSU Mitglied der EVP ist, sprach sich gegen eine Verlängerung der Amtszeit von Schulz aus. Anders als Juncker, werden die Europaabgeordneten von CDU und CSU jedoch konkret abstimmen dürfen für einen neuen Parlamentspräsidenten. Dass jedoch der „mächtigste Mann“ Europas, der bei den Lobbyisten der europäischen und internationalen Konzerne ein besonders beliebter Mann ist, nicht zuletzt weil er als luxemburgischer Premierminister einen beachtlichen Teil zum Ausbau des Kleinstaates zur Steueroase geleistet hat, soll wohl den Konservativen mitteilen: Ein besserer Kandidat findet sich nicht für euer (unser) Klientel.

Auch eine Verlängerung der Amtszeit des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, dessen erste Amtszeit bis Mai kommenden Jahres dauert, sähe Juncker laut Interview gern. Der liberal-konservative Pole ist zwar EVP-Mitglied, hat aber ein gespanntes Verhältnis zur grenzfaschistischen Regierung in seinem Heimatland. Die Staats- und Regierungschefs der EU wählen den Ratspräsidenten, der einmal mit qualifizierter Mehrheit für zweieinhalb Jahre wiedergewählt werden kann.

Von Schulz und Juncker ist bekannt, dass  sich beide seit den Europawahlen 2014 eng zusammenarbeiten in der Bestrebung, die Macht von EU-Kommission und EU-Parlament gegenüber den EU-Staaten zu stärken. Schulz wird in der SPD auch für eine herausgehobene Rolle in der deutschen Innenpolitik bis hin zum Kanzlerkandidaten gehandelt, lehnte dies jedoch bereits ab.

Juncker hatte zuletzt von sich Reden gemacht, indem er vorschlug, dass umfassende kanadisch-europäische Handels und Investitionsabkommen CETA an den nationalen Parlamenten vorbei zu bewilligen, indem die EU-Kommission das konzernfreundliche „Freihandelsabkommen“ als reines EU-Abkommen, statt als „gemischtes Abkommen“ einstuft. Erneut hatte er mit diesem Vorschlag gezeigt, wer sein Klientel ist: Die europäischen und internationalen Wirtschaftskonzerne.

Gesetzesentwurf zur Subventionierung von Wohnbauten abgeschmettert. Wie ist die Wohnungsnot zu lösen?

Der Wohnungsmarkt boomt wie seit wie seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr: 2015 wurden knapp 248.000 Wohnungen fertiggestellt. Die Immobilienwirtschaft geht jedoch davon aus, dass bis 2020 jedes Jahr 350.000 bis 400.000 neue Wohnungen erforderlich sind, um den auch durch den Flüchtlingszuzug erhöhten Bedarf zu decken. Eine neue neue Gesetzesvorlage der Bundesregierung, die den Mietwohnungsbau durch Steueranreize in Milliardenhöhe fördern sollte, scheiterte nun jedoch am Widerstand der SPD.

SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann sagte am Dienstag, die geplante Sonderabschreibung hätte den Bau von Wohnungen gefördert, für die Mieter am Ende 15 Euro pro Quadratmeter hätten zahlen müssen. „Deshalb musste der Gesetzentwurf gestoppt werden.“ Die Union machte die SPD für das Scheitern des Vorhabens verantwortlich, für das sich auch Bauministerin Barbara Hendricks (SPD) eingesetzt hatte. Unions-Finanzexperte Ralph Brinkhaus sagte, im Herbst käme das Thema erneut auf den Tisch. Die Grünen forderten nun Investitionszulagen für den Wohnungsbau.

Der Gesetzentwurf des Finanzministeriums sollte den Bau von Mietwohnungen in Ballungszentren mit einer Sonderabschreibung von insgesamt 29 Prozent der Baukosten über drei Jahre fördern. Dafür waren waren bis 2020 Steuerausfälle von gut zwei Milliarden Euro veranschlagt. Die SPD-Fraktion wollte eine Mietpreisgrenze für die geförderten Neubauten einziehen und nur Wohnungen subventionieren, die pro Quadratmeter auf höchstens 2600 Euro Baukosten kommen. Erst nach einer Expertenanhörung kam dieser Vorschlag auf den Tisch. Zuvor war der Gesetzentwurf bereits mit den Ländern abgestimmt worden.

„Öffentlich geförderte Luxusbauten passen nicht in die Zeit“, erklärte SPD-Vizefraktionschefin Eva Högl. „Steuererleichterungen für hochpreisige Wohnungen können deshalb nicht unser Ziel sein.“ SPD-Haushaltsexperte Carsten Schneider sagte: „Der Gesetzentwurf wird deshalb nicht weiter verfolgt.“ Womit die Sozialdemokraten zwar im Grunde recht haben, eine Lösung für das real existierende Problem der Wohnungsnot in den deutschen Metropolen können sie jedoch nicht liefern.

Tatsächlich betrifft diese Wohnungsnot allerdings insbesondere Haushalte mit geringen Einkommen. Vielverdiener sind quasi nicht davon betroffen. Weshalb etwaige steuerliche Anreize stärker darauf Abzielen sollten, wie von der SPD gefordert, günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die Implementierung einer statischen Mietpreisbremse kann hierfür jedoch kein akzeptables Mittel sein, stattdessen sollte eine relative Mietpreisbremse in den Gesetzesentwurf aufgenommen werden. Das würde bedeuten, Bauträger könnten die versprochenen Sonderabschreibungen nur dann nachträglich in Anspruch nehmen, wenn der fertige Wohnraum zu einem Mietpreis angeboten wird, der deutlich unter dem durchschnittlichen Mietspiegel der jeweiligen Stadt liegt. Auf diese Weise wären auch Abstufungen in der Gewährung der Subventionen möglich.

Der Gesetzentwurf lag seit Februar im Bundestag auf Eis. Zwar war das Finanzministerium federführend, angestoßen worden war das Vorhaben aber von Bauministerin Hendricks. Die Wohnungswirtschaft hatte am Montag zuletzt eine rasche Entscheidung gefordert und darauf verwiesen, dass in Deutschland zu wenig Mietwohnungen gebaut würden. Nur selten spricht es für einen Gesetzesentwurf, wenn das Großkapital diesen lauthals unterstützt. Verständlich allerdings, dass die Immobilienwirtschaft den Gesetzesentwurf, der ihnen Subventionen ohne großartige Bedingungen verspricht, gerne durchgedrückt hätte. Jeder ist sich schließlich selbst der nächste. Die Wohnungsnot jedoch, soviel ist klar, hätte der Entwurf, trotz aller Beteuerungen der Unionsfraktion, nicht gelöst.

Spartacus am Sonntagmorgen vom 19.06.2016 – Die Frühstückszeitung.

Zitat der Woche: Rosa Luxemburg

„Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden“
– Mitbegründerin des Spartakusbundes und der ehemaligen KPD (heute „die Linke“) Rosa Luxemburg.

Leitartikel: Heuchlerische Solidarität.

Eine in Deutschland völlig unbekannte linksliberale Abgeordnete, Jo Cox, aus England wird umgebracht und plötzlich quellen die sozialen Netzwerke über von Solidaritätsbekundungen linker, liberaler und konservativer Politiker und sogenannter Prominenter mit den Angehörigen dieser Politikerin. Sie wird gar zum Champion des europäischen Gedankens stilisiert. Ähnliches geschieht regelmäßig, wenn westliche Soldaten in den nahöstlichen Konflikten sterben. Eine Welle heuchlerischer Solidarität schwappt durch die Medien und ein paar Wochen, teilweise Tage, später ist die Katastrophe vergessen.

Gleichzeitig sterben bei Terroranschlägen in Afrika hunderte Menschen, diese Nachrichten sind den westlichen Politikern erstaunlicherweise keine großen Trauerbekundungen wert. In den Medien finden sich diese höchstens als Kleinmeldungen.

Wir solidarisieren uns gerne mit jenen Opfern, denen wir uns nahe fühlen, alle anderen sind uns eher gleichgültig. Wir sind furchtbare Heuchler.


Wahlumfrage der Woche: AfD erholt sich leicht.

Seit Wochen stagnieren die Umfragewerte der ehemaligen Volksparteien und auch die mittleren Parteien tun sich schwer: Grüne und Linke bleiben bei den Werten der Vorwoche und würden Am Sonntag demnach 13% und 10% erhalten, die SPD weiterhin 21% der Stimmen. Die FDP würde mit 6% der Stimmen wieder in den Bundestag zurück gewählt. Einzig die AfD konnte gegenüber des, auch auf den fremdenfeindlichen Äußerungen der Parteispitze gegenüber deutschen Nationalspielern basierenden, Wertes der Vorwoche einen Prozentpunkt gut machen und liegt nun wieder bei 11%. Für Rot-rot-grün würde es dementsprechend weiterhin nicht reichen.


Kommentar: Prozentzahlen sollte man nicht raten, auch nicht als Minister.

Thomas De Mazière, einst einer der populärsten deutschen Politiker, beliebter gar als die Bundeskanzlerin, dürfte sich diese Woche für den Titel des unsensibelsten Bundesministers in der Geschichte der Bundesrepublik qualifiziert haben: Zuerst forderte er die deutschlandweite Einführung einer Polizei-Miliz, die ohne großartige Ausbildung bewaffnet Streife gehen soll und dann warf er deutschen Flüchtlingsärzten vor, abgelehnte Asylbewerber in einem derartigen Maße krank zu schreiben, dass dies die Abschiebepraxis enorm behindere. Die Zahl, die er dabei nannte mutete sofort suspekt an, 70% der unter 40-jährigen Asylbewerber seien demnach krank geschrieben, wenn ihnen die Abschiebung drohe. Eine Ungeheuerlichkeit. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass diese Zahl frei erfunden, nach den Angaben des Ministers „ein Erfahrungswert“, war.

Innenminister De Maizière: "Erfahrungswerte" können dem sozialen Frieden schaden und stärken Rechtsextreme.
Innenminister De Maizière: „Erfahrungswerte“ können dem sozialen Frieden schaden und stärken Rechtsextreme.

Am Samstag entschuldigte sich der Innenminister eher halbherzig für die Nennung dieser Prozentzahl, nicht jedoch für den Kern der Aussage: In der Abschiebepolitik gäbe es zu viele Hindernisse, dazu gehörten auch „vorgeschobene gesundheitliche Gründe“. Er relativiert also seine Einlassung, maßt sich aber weiterhin an, die Kompetenz studierter Mediziner generell in Frage zu stellen. Mutig.

Konkret sagte De Maizière: „Dass ich durch meine Antwort in einem Interview den Eindruck erweckt habe, dass die Zahl von 70 Prozent eine allgemeingültige, statistisch belegbare Größe ist und eben nicht nur ein Erfahrungswert, war nicht meine Absicht.“

Wer sich in die Öffentlichkeit stellt und von Prozentzahlen spricht, von konkreten Werten, die eine reale Krise betreffen, sollte sich jedoch bewusst machen, dass diese konkreten Werte gerade im Falle eines Regierungsmitglieds auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen und eingeordnet werden. Der größte Teil der Bevölkerung wird ein Mindestmaß an Vertrauen in die Worte eines Ministers legen und seinen Einlassungen dementsprechend Glauben schenken. Hinzu kommt momentan, dass selbst jene im rechten Lager, die der Politik grundsätzlich keinen Glauben schenken, gewillt sind eine Aussage für wahr zu halten, wenn sie ihre politische Linie zu stützen scheint. In Anbetracht dessen haben derartige „Erfahrungswerte“ das Potential, das Erstarkens der „neuen Rechten“ weiter zu fördern. Die Aussage De Maizières ist daher nicht nur eine unverschämte Anmaßung gegenüber Ärzten und Flüchtlingshelfern, sie ist auch eine unverantwortliche politische Einlassung, welche eine den sozialen Frieden in Deutschland gefährdende Sprengkraft hätte entwickeln können.

Dieser Innenminister ist mittlerweile in seinem Bestreben relevant und medial präsent zu sein völlig untragbar geworden.


Meldungen.

Mord an Jo Cox: „Tod den Verrätern“. Zwei Tage nach der Ermordung der britischen Abgeordneten Jo Cox ist der mutmaßliche Täter einem Gericht in London vorgeführt worden. Dabei sagte der 52-jährige Thomas Mair am Samstag auf die Frage nach seinem Namen: „Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien“. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt ihn des Mordes, der gefährlichen Körperverletzung und des unerlaubten Waffenbesitzes. Die 41-jährige Labour-Abgeordnete Cox starb am Donnerstag im nordenglischen Birstall durch Schüsse und Messerstiche. In der teils erbittert geführten Debatte in Großbritannien war sie für einen Verbleib in der Europäischen Union (EU) eingetreten. Die Briten stimmen am 23. Juni ab. Vor Gericht äußerte sich Mair nicht zu den Vorwürfen. Auf die wiederholte Frage des Gerichtsschreibers des Amtsgerichts Westminster in London nach seinem Namen entgegnete er ruhig: „Mein Name ist Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien.“ Ansonsten schwieg er in der 15 Minuten langen Anhörung, nach der er in Haft blieb. Am Montag soll er im Londoner Old Bailey dem Strafgerichtshof vorgeführt werden, wo die bedeutenden Kriminalfälle verhandelt werden.
Nach Polizeiangaben wird derzeit von einem Einzeltäter ausgegangen, Verbindungen des mutmaßlichen Attentäters ins rechtsextreme Milieu sind allerdings mittlerweile nachgewiesen worden. Einzeltäter ja, aber politisch motiviert durch die radikalen Hetze der britischen Rechten.

SPD: Sigmar Gabriel fordert progressives Bündnis gegen rechte Politik. „Deutschland braucht jetzt ein Bündnis aller progressiven Kräfte“, schrieb Gabriel am Samstag bei Facebook. Die Rechte habe immer schon versucht, die Wut über soziale Ungerechtigkeit in Hass auf Minderheiten umzumünzen: „Um dieser historischen Lüge entgegenzutreten, braucht es überall weit mehr Kampfbereitschaft der demokratischen Linken.“ In einem Gastbeitrag für den „Spiegel“ schrieb Gabriel zudem, die Mitte-links-Parteien müssten sich besinnen und „ihren notorischen Missmut, ihre Eitelkeiten und Spaltungen“ überwinden. Das gelte für die USA wie für Europa und auch Deutschland. „In Europa müssen progressive Parteien und Bewegungen füreinander bündnisbereit und miteinander regierungsfähig sein“, schrieb Gabriel im „Spiegel“. Das verlange einiges von der Sozialdemokratie und ihren denkbaren Partnern. Inwieweit diese erneute politische Öffnung des Vizekanzlers ernst genommen werden kann darf umstritten sein. Der Bundesfraktionsvorsitzende der Grünen, Anton Hofreiter hatte am Freitag Gabriel vorgeworfen zwar von der Möglichkeit für rot-rot-grün zu sprechen, jedoch diese nicht ernsthaft zu verfolgen. Die SPD müsse ernsthaft auch beginnen mit den Linken zu sprechen, statt sich weiter in der großen Koalition einzurichten.

Terrorismus: Verdächtige in Belgien festgenommen. Die belgische Polizei hat nach Angaben der Bundesanwaltschaft zwölf Personen festgenommen, die neue Anschläge geplant haben sollen. Demnach gab es in der Nacht zum Samstag landesweite Razzien, bei denen etwa 40 Wohnungen durchsucht und 40 Personen befragt wurden. Ein Ermittlungsrichter sollte im Laufe des Tages entscheiden, ob die zwölf Festgenommenen in Haft bleiben. Waffen oder Sprengsätze seien nicht gefunden worden. Dem TV-Sender VTM zufolge stehen sie im Verdacht, für dieses Wochenende einen Anschlag in Brüssel geplant zu haben, und zwar während eines Fußballspiels der belgischen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Frankreich. Das Team sollte am Samstagnachmittag (15.00 Uhr, MESZ) in Bordeaux gegen die Auswahl Irlands antreten. Die belgische Polizei hatte vergangene Woche Sicherheitskreisen zufolge eine Warnung erhalten, dass sich Kämpfer der Extremistenmiliz IS auf den Weg nach Europa gemacht und Anschläge in Belgien und Frankreich geplant hätten.


Literaturempfehlung der Woche:
Ferdinand von Schirach – Die Würde ist antastbar.

Wie belastbar sind eigentlich unsere Grundwerte? Welche Gesetze sollten uns in Extremsituationen leiten? Darf man einen Terroristen ohne gerechtes Verfahren töten? Die Essaysammlung des Strafverteidigers und Schriftstellers Ferdinand von Schirach ist in Teilen eine Liebeserklärung an das Grundgesetz, in Teilen eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Nachkriegsjustiz aber insbesondere ist sie ein Denkanstoß dahingehend, welche Werte uns im demokratischen Zeitalter leiten sollten.

Hier können Sie „Die Würde ist antastbar“ kaufen.


Kampagne: Spartacus – UND DU?

Mit der Kampagne „Spartacus – UND DU?“ wollen wir unserem Ziel, ein pluralistisches progressives Webmedium zu werden, in dem viele Ansichten und politisch-progressive Strömungen gehört werden, einen Schritt näher kommen. Zu diesem Zweck werben wir um das Engagement von BloggerInnen und Interessierten als KorrespondentInnen und GastautorInnen.

Karl Liebknecht unterstützt Spartacus - und du?
Karl Liebknecht unterstützt Spartacus – und du?

Hier geht es zur Kampagne.


Artikel der Woche: Über die Verteidiger der Grundwerte in Monheim

Haben sie von der Partei PETO gehört? Nein? PETO ist eine lokale fortschrittliche Jugendpartei, die bei den Kommunalwahlen in der Stadt Monheim am Rhein einigen Erfolg hat: Sie stellt dort das zweite mal in Folge den Bürgermeister und hat es binnen nur 17 Jahren der Existenz geschafft, die absolute Mehrheit der Bürgerherzen und -stimmen zu gewinnen. Mit einer fortschrittlichen, konsequent demokratischen und partizipativen Politik. Nun plant die Stadtverwaltung, zwei muslimischen Gemeinden Land für die Errichtung vom Moscheen zur Verfügung zustellen, und man sollte es nicht für möglich halten, aber die Bürger sind begeistert. Wo ist hier der rechte Mob, wo ist das dunkle Deutschland, von dem dieser Tage so oft die Rede ist? In Monheim scheint die Welt noch in Ordnung.

Die Minarette von Monheim.


Fernsehtipp der Woche: Blutiger Sonntag.

Am 30. Januar 1972 erschossen britische Soldaten 14 unbewaffnete Zivilisten bei einer Bürgerrechtsdemonstration in Derry, Nordirland. Der Tag ist als „Bloody Sunday“ in die Geschichte eingegangen. Erst 38 Jahre danach, im Jahre 2010, entschuldigte sich erstmamls ein britscher Premier – David Cameron – bei den Opfern und ihren Familien. Der Dokumentarfilm von 2006 greift unter anderem auf Originalaufnahmen vom „blutigen Sonntag“ zurück und zeigt anhand des folgenden Gerichtsprozesses die Ungerechtigkeit der Tat auf.

Blutiger Sonntag“ kann bis zum 18. Juli in der arte-Mediathek angeschaut werden.


Gedicht der Woche:
Wilhelm Busch – Kritik des Herzens Kapitel 27

Ihr kennt ihn doch schon manches Jahr,
Wißt, was es für ein Vogel war;
Wie er in allen Gartenräumen
Herumgeflattert auf den Bäumen;

Wie er die hübschen roten Beeren,
Die andern Leuten zugehören,
Mit seinem Schnabel angepickt
Und sich ganz lasterhaft erquickt.

Nun hat sich dieser böse Näscher,
Gardinenschleicher, Mädchenhäscher,
Der manchen Biedermann gequält,
Am Ende selber noch vermählt.

Nun legt er seine Stirn in Falten,
Fängt eine Predigt an zu halten
Und möchte uns von Tugend schwatzen.

Ei, so ein alter Schlingel! Kaum
Hat er ’nen eignen Kirschenbaum,
So schimpft er auf die Spatzen.


Spartacus am Sonntagmorgen – Ihre Frühstückszeitung enthält redaktionell gesammelte Meldungen und Kommentare zu aktuellen Themen. Die Beiträge wurden generell nicht in erster Linie nach Wichtigkeit sortiert oder ausgewählt, wir bemühen uns stattdessen ihnen eine abwechslungsreiche und informative Lektüre zu Ihrem morgendlichen Marmeladenbrot, Croissant oder Müsli zu servieren. Guten Appetit.

Hofreiter: SPD muss mit der Linkspartei reden!

Berlin. In einem Interview mit der Wochenzeitung „die Zeit“ sagte der parteilinke Bundesfraktionsvorsitzende, Anton Hofreiter, er halte den Linkskurs von Sigmar Gabriels SPD nur dann für glaubwürdig, wenn dieser anfangen würde ernsthaft auch mit den Linken zu reden, statt sich nur weiter in der großen Koalition einzurichten. Er habe nicht den Eindruck, dass Gabriel ernsthaft an einer Progressiven Regierung interessiert sei, er betonte jedoch, wie wichtig es ihm sei, dass diese Alternative am Wahlabend vorhanden ist. Demokratie lebe von Alternativen.

„von der sozialdemokratie“ – Gedichtbeitrag

von der sozialdemokratie

es ächzt die alte frau, sie hustet.
wo will sie hin? sie weiß es nicht.
wer sie ist? sie hat’s vergessen.
hatte viele kinder einst,
hat sie all‘ gefressen.

die krankheit steckt ihr in den knochen.
schwach ist sie und nicht sie selbst.
ist vom geist der zeit besessen.
kannte viele freunde einst,
hat sie all‘ gefressen.

schwarzer staub auf ihrem roten kleid.
klopft ihn ab, er legt sich wieder.
färbt’s ganz schwarz statt dessen.
sie ist auch meine mutter,
hätt‘ auch mich gefressen.