Nach Ansicht des Würzburger Volkswirtschaftsprofessors und „Wirschaftweisen“ Peter Bofinger ist das sogenannte Dreisäulen-Modell der Altersversorgung gescheitert. Die Sparquote von Haushalten mit niedrigem Einkommen ist gesunken und im Niedrigzins-Umfeld bringt die gesetzliche Rente eine höhere Rendite als die private Altersvorsorge.
“Eine Ausweitung der Förderung der betrieblichen Altersvorsorge (bAV) scheint völlig kontraproduktiv”, schreibt das Mitglied des Sachverständigenrates. Die vier anderen Sachverständigen könnten ihre Position zur bAV nicht mit verlässlichen Daten unterfüttern. Bofinger dagegen kann Berechnungen des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) anführen, nach welchen die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) Männern eine Rendite von drei bis 3,5 Prozent ermöglicht, Frauen sogar 3,5 bis vier Prozent. „In einem globalen Niedrigzins-Umfeld erscheint die Förderung der bAV durch eine Befreiung von Sozialabgaben besonders fragwürdig“, schließt Bofinger. „Bei der Förderung der betrieblichen Altersvorsorge durch die Befreiung von der Sozialversicherungspflicht stellt sich zunächst das Problem, dass dadurch die Gesetzliche Rentenversicherung nicht stabilisiert, sondern destabilisiert wird.“
In diesem Zusammenhang verweist der Professor auch auf ein älteres Gutachten des Sachverständigenrates von 2006/2007 in dem diesem Zusammenhang noch Rechnung getragen wurde: „Festzuhalten bleibt somit, dass die sozialabgabenfreie Entgeltumwandlung die Rendite der Gesetzlichen Rentenversicherung für einen sehr langen Übergangszeitraum senkt. Im Ergebnis bewirkt die Sozialabgabenfreiheit eine Umverteilung von den Älteren zu den Jüngeren. Dauerhaft benachteiligt werden diejenigen, die das Angebot der sozialabgabenfreien Entgeltumwandlung nicht annehmen wollen oder können.“
Letzteres, also die Unfähigkeit, die sozialabgabenfreie Entgeltumwandlung, wird jedoch immer häufiger, das Ziel der sogenannten Riester-Reform, Bezieher von Niedrigeinkommen zum Sparen zu bringen, sei nicht erreicht worden. “Die Sparquote ist vielmehr vor allem bei niedrigen Einkommen deutlich zurückgegangen”, erläutert der Wirtschaftsexperte. „Sie war zuletzt, das heißt im Jahr 2013, bis zu einem Haushaltsnettoeinkommen von 2.000 Euro sogar negativ. Im Jahr 1999, also vor Beginn der Sparförderung, lag die Grenze für die negative Sparquote noch bei 1.300 Euro.“
Zudem haben laut Gutachten nur fünf Prozent der Haushalte im untersten Einkommensviertel einen Riester- oder Rürup-Vertrag abgeschlossen. Das Dreisäulen-Modell trage also, entgegen der Meinung der anderen Ratsmitglieder, nicht dazu bei, die gesetzliche Rente finanziell abzusichern, verdeutlicht der Ökonom seine Meinung.
Einen direkten Zusammenhang erkennt der Wirtschaftswissenschaftler zwischen den gefallenen Sparquoten und dem Fallen der mittleren Haushaltseinkommen zwischen 2000 und 2013 um über 10 Prozent. „Der Befund einer negativen oder kaum positiven Sparneigung der Bezieher niedriger Einkommen deckt sich zudem mit der Statistik zur Vermögensverteilung, wonach die untere Hälfte der privaten Haushalte nur über 3 % des gesamten Vermögens verfügt.“
Potentiale zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung erkennt Bofinger dagegen in der gleichgestellten Einbeziehung Selbstständiger in das System. Zwar spricht sich auch das Mehrheitsgutachten für eine Versicherungspflicht nicht obligatorisch abgesicherter Selbstständiger aus, es lehnt jedoch eine verpflichtende
Vorsorge m Rahmen der GRV ab. Mit einer solchen Maßnahme, ließe sich jedoch über Jahrzehnte hinweg das Rentenniveau um rund einen Prozentpunkt erhöhen und der Beitragssatz um rund einen halben Prozentpunkt reduzieren, erklärt der Professor. „Erst ‚in der langen Frist‘, das heißt konkret ab dem Jahr 2070, lässt sich dann kaum noch ein Unterschied zum Basisszenario feststellen.“
Peter Bofinger wurde im März 2004 in den Sachverständigenrat berufen. Der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg ist somit das dienstälteste Mitglied des Gremiums. Er vertritt eine nachfrageorientierte Markttheorie und befasst sich im Rat schwerpunktmäßig mit Europäischer Integration, Geld- und Währungspolitik sowie Energiepolitik.
Bofinger ist zudem Autor der populärwissenschaftlichen Bücher „Wir sind besser, als wir glauben – Wohlstand für alle“ und „Zurück zur D-Mark? Deutschland braucht den Euro“ sowie des Standardlehrbuchs „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ für Wirtschaftsstudiengänge.
Der Ökonom ist der Ansicht, ein Wissenschaftler solle – auch in beratender Funktion – klare Positionen bekennen statt Kompromisse einzugehen, denn „die Kompromisse macht die Politik schon selber.“
Am Mittwoch legten die sogenannten Wirtschaftsweisen des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ in Berlin ihr Jahresgutachten vor. Einmal mehr erweist sich das Gutachten, das unter dem Titel „Zeit für Reformen“ steht, auch als Plädoyer für mehr Sozialabbau und eine Stärkung der Konzernmacht. So soll das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt werden und die private Altersvorsorge gestärkt werden. Einzig das dienstälteste Mitglied des Rates, der Volkswirt Peter Bofinger, leistet dagegen Widerstand: Sozial schwächer gestellte hätten demnach gar keine Chance vom sogenannten „Drei Säulen Modell“ der Altersvorsorge zu profitieren, im Gegenteil weist der Professor von der Universität Würzburg daraufhin, dass die Sparquoten seit der Einführung dieses Modells (unter der rot-grünen Schröder-Regierung) bei niedrigen Gehältern sogar gesunken sind.
Besonders bedenklich sei dies, wenn berücksichtigt wird, dass die Absenkung des Rentenniveaus es immer weiter erschwert, einen Rentenanspruch zu erwerben, der über der Grundsicherung liegt. Nur fünf Prozent des einkommensschwächsten Fünftels könnten so überhaupt zusätzlich mittels einer Riester- oder Rürup-Rente fürs Alter vorsorgen. Insgesamt geht der Professor davon aus, dass das Problem der Altersarmut zunehmend an Bedeutung gewinnen wird.
Auch die Arbeitsmarktpolitischen Forderungen des Gremiums lehnt Bofinger ab: So fordert der Rat neben einer Rentenreform auch die weitere Flexibilisierung des Dienstleistungssektors und bezeichnet den Mindestlohn als „Hürde für die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors“. Der Kynsianer Bofinger sieht das anders, so kommentierte er in einem Spiegel-Interview schon im Februar: „Es ist nun offensichtlich, dass zahlreiche Wirtschaftsinstitute und Politiker seine Wirkung fundamental falsch eingeschätzt haben. So ging zum Beispiel das Ifo-Institut davon aus, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde bis zu eine Million Arbeitsplätze gefährdet. Und? Gibt es nun eine Auswirkung auf den Arbeitsmarkt? Ich sehe nichts.“
Und tatsächlich mussten auch die fünf Weisen ihre Prognose für die Deutsche Wirtschaft schon nach oben korrigieren: Statt dem im Vorjahr prognostizierten Wachstum von 1,6 Prozent wird das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr inflationsbereinigt voraussichtlich um 1,9 Prozent anwachsen. Und doch ist auffällig, wie festgefahren das Gros der Wirtschaftswissenschaftler – beziehungsweise der politischen Ökonomen – in seinem neoliberalen Denken ist: Der Markt soll es richten, so denkt der Liberale, dass aber der Markt im Neoliberalismus im Ungleichgewicht zu Gunsten des Kapitals steht, übersehen sie – oder sie ignorieren es. Einzig Bofinger, der auch Autor volkswirtschaftlicher Lehrbücher ist, stellt fest, dass „eine Agenda, die allein auf mehr Marktkräfte setzt“, „nicht zielführend“ sei.
Professor Peter Bofinger, lehrt Volkswirtschaft in Würzburg, schreibt populärwissenschaftliche Bücher zur Geldpolitik und liefert im Sachverständigenrat einsichtige Analysen aus der Sicht eines Keynesianers.
Mit Blick auf die Arbeitsmarktforderungen gibt der Ökonom weiterhin zu bedenken, dass es „trotz der seither eingetretenen deutlichen Verbesserung der Beschäftigungslage bis zuletzt nicht mehr zu einer günstigeren Einkommensentwicklung für die Personen im unteren Fünftel der Verteilung gekommen“ sei. Und ergänzt in Bezug auf die zunehmende Kritik am marktliberalen Wirtschaftsmodell in Deutschland, es sei nicht überraschend, dass politische Initiativen für eine weitere Marktöffnung auf wachsenden politischen Widerstand stoßen, wenn ein Vierteljahrhundert, das für Deutschland in besonderer Weise durch die Globalisierung geprägt gewesen sei, keine Verbesserung der materiellen Situation vieler Menschen mit sich bringe. Bofinger erklärt so teilweise auch die wachsende Skepsis gegenüber der EU oder neoliberalen Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP.
Die Reaktionen auf das Gutachten fielen derweil sehr gemischt aus, während die wirtschaftsnahe Presse zumeist nur das Mehrheitsgutachten zitierte und den Minderheitskommentar Bofingers höchstens beiläufig erwähnte, wies Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) den Bericht größtenteils zurück. Die Bundesregierung habe demnach mit ihrer Investitions- und Nachhaltigkeitsstrategie die Wirtschaftspolitik auf zentrale Zukunftsthemen ausgerichtet und wichtige Reformen umgesetzt, so der Vizekanzler. Ähnlich reagierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf die Aussagen der Wirtschaftsweisen: „Für uns ist immer Zeit für Reformen“, sagte sie am Mittwoch in Berlin bei der Entgegennahme Gutachtens.
Der wirtschaftspolitischen Sprecher der Linksfraktion im Bundestag stimmt dem Gutachten dagegen insofern zu, als dass die Bundesregierung tatsächlich wichtige Reformen versäumt hätte. Allerdings bestehe laut Schlecht das Versäumnis nicht darin, die Agenda 2010 zurückzudrehen, im Gegenteil kritisiert der Wirtschaftspolitiker – ähnlich wie zuvor schon Peter Bofinger – den „löchrigen Mindestlohn und die bestenfalls halbherzige Einschränkung des Missbrauchs von Leiharbeit und Werkverträgen“. Nötig sei demnach eine massive Stärkung der Binnennachfrage durch die Ausweitung öffentlicher Investitionen und vor allem durch höhere Löhne.
Noch vernichtender fiel das Urteil über das Jahresgutachten bei den Gewerkschaften aus. So bezeichnete Ver.di-Chef Frank Bsirske den Bericht schlicht als „Dokument reinster Ideologieproduktion“ und sprach von „kruden Politikempfehlungen“. „Sachverstand zeigt wieder einmal nur der Kommentar von Peter Bofinger. Es ist höchste Zeit, dieses Gremium aufzuräumen“, ergänzte DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell. Die Mehrheit der Wirtschaftsweisen beweise dagegen wieder einmal, wie „rückwärtsgewandt und marktgläubig“ sie seien. „Würden die Empfehlungen des Sachverständigenrates umgesetzt, würde dies den Investitionsstau in Deutschland festigen, die Stabilisierung Europas gefährden und die soziale Ungleichheit verschärfen“, so Körzell.
Welchen Wert aber hat ein ökonomisches Gutachten eines Beratergremiums, das so unausgeglichen ist, in dem vier von fünf Ökonomen die neoliberale Position vertreten und nur einer die keynesianische – „sachverständige“ – Ansicht?
Brüssel (Belgien). Es ist vielleicht die Nachricht der Woche, vielleicht gar die politische Nachricht des Jahres, aber sie geht fast unter im Sumpf der europäischen Fußballbegeisterung. So dürfte es kaum ein Zufall sein, dass der mächtigste Mann Europas, EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, ausgerechnet inmitten der UEFA Europa-Meisterschafft bekannt gibt, dass die EU-Kommission keine nationalen Abstimmungen über das umstrittene europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA wünscht.
Während deutsche Medienvertreter sich also noch mit den Folgen oder Nichtfolgen des BREXIT-Votums und der essentiellen Frage, wann denn nun die Bundeskanzlerin endlich ein Spiel der deutschen Nationalelf in Frankreich besucht, beschäftigen, höhlt die EU-Kommission statt eine Lehre aus dem Votum der Briten zu ziehen weiter die Demokratie der europäischen Staaten aus. Die EU-Kommission könnte tatsächlich ohne weitere demokratische Abklärung dafür sorgen, dass über CETA nur noch im EU-Parlament abgestimmt werden müsste, indem sie einen simplen Trick anwendet: Der EU-Vertrag sieht vor, dass über sogenannte „gemischte Abkommen“ also Handelsabkommen, die von Drittstaaten sowohl mit einzelnen EU-Staaten als auch parallel mit der Staatengemeinschaft geschlossen werden, vom europäischen Parlament sowie von den nationalen Volksvertretungen abgestimmt werden muss. Über reine EU-Abkommen dagegen müssten laut EU-Vertrag die nationalen Parlamente nicht abstimmen. Die EU-Kommission plant nun, gegen den Widerstand nationaler Regierungen, CETA und in der Folge wahrscheinlich auch TTIP und TISA als reines EU-Abkommen zu deklarieren. Damit würden die nationalen Parlamente endgültig vom Bewilligungsprozess ausgeschlossen.
Sitz der EU-Kommission in Brüssel, nur die Kommission kann in der EU Gesetze auf den Weg bringen.
Die Unterwanderung der europäischen Demokratie.
Nun wäre das nicht so wild, hätte das EU-Parlament in der europäischen Gesetzgebung die selben Rechte, wie ein nationales Parlament in dessen Gesetzgebung. Tatsächlich sind aber die legislativen Rechte des europäischen Parlaments enorm begrenzt. Während in Deutschland beispielsweise jede Bundestagsfraktion Gesetzesentwürfe und Anträge in den Gesetzgebungsprozess einbringen kann, kann das EU-Parlament in der Regel nur Änderungen an Gesetzen vorschlagen, die von der EU-Kommission eingebracht werden. Sofern die EU-Kommission über CETA und später TTIP jedoch als Gesamtpaket und nicht „Punkt für Punkt“ abstimmen ließe, wovon zum Beispiel Freihandelsexperte Thilo Bode überzeugt ist, könnte es dem Vertrag sogar nur noch zustimmen oder ihn ablehnen. So einfach kann man einen demokratischen Gesetzgebungsprozess ad absurdum führen.
EU-Parlament in Brüssel: Kann nur Änderungsanträge zu Gesetzesvorlagen der Kommission stellen.
Zuvor war die EU-Kommission bereits in die Kritik geraten, als sie vor schlug, Teile des CETA-Abkommens bereits anzuwenden, bevor in den nationalen Parlamenten darüber abgestimmt wurde. Schon diese Entscheidung wurde weitgehend als undemokratische „Aushebelung der nationalen Parlamente“ verstanden. In einer Debatte des Bundestages um das umstrittene Abkommen hatte der Wirtschaftspolitische Sprecher der Linksfraktion, Klaus Ernst insbesondere kritisiert, dass die Regierungskoalition mit ihrer Unterstützung des Vorschlags, CETA vorläufig anzuwenden, den Vertrag „gegen den Willen der Bürger“ durchzudrücken. Nach dem Ausschluss der Öffentlichkeit bei den geheimen Verhandlungen, folge die Ausschaltung der nationalen Parlamente, so Ernst.
In der Debatte hatte außerdem Katarina Dröge von den Grünen gefragt, wie eine reguläre Beratung über CETA im Bundestag von statten gehen solle, obwohl noch immer keine deutsche Übersetzung des Abkommens, das 500 Seiten Vertragstext und 1.500 Seiten Anhänge habe, vorliege. „Wie stellen Sie sich jetzt ein geordnetes parlamentarisches Beratungsverfahren vor, von dem Sie immer gesprochen haben?“
„Wenn die Bundesregierung im EU-Handelsministerrat sowohl über den Vertragstext als auch gegebenenfalls über die vorläufige Anwendung entschieden hat, dann glauben Sie doch nicht ernsthaft, dass danach noch eine andere parlamentarische Beratung erfolgen wird“, Hatte die Abgeordnete gewarnt. Die gute Nachricht für Frau Dröge dürfte nun sein, dass sie keine 2000 Seiten CETA wird lesen müssen, da es wohl gar kein parlamentarisches Votum über das umstrittene Abkommen geben wird. Die Vorläufige Anwendung war scheinbar nur ein erster Schritt zur Umgehung nationaler Volksvertretungen. Es liegt wohl auch an der zunehmend kritischen Stimmung in den Bevölkerungen, dass nun die demokratisch gewählten Parlamente endgültig aus dem Beratungsprozess ausgeschlossen werden sollen.
Bei einer Demonstration in Berlin gegen die Handelsabkommen TTIP und CETA waren 250.000 Bürger zugegen, in großen Teilen der Bevölkerung sind die Verträge sehr umstritten.
Wobei das Mitspracherecht der nationalen Legislativorgane selbst unter Einbeziehung der Staatsparlamente deutlich eingeschränkt sein dürfte, da diese, sofern CETA als gemischtes Abkommen gewertet würde, einzig über jene Teile des Abkommens votieren dürften, welche in direktem Zusammenhang mit der nationalen Gesetzgebung stehen.
Die Haltung der deutschen Politik.
Während sich die deutsche Politik in Sachen vorzeitige Anwendung von CETA an den Kanten der Regierungskoalition scheidet, scheint bei der vollständigen Aushebelung der nationalen Parlamente Einigkeit zu bestehen.
SPD und Unionsparteien befürworten zwar überwiegend eine vorzeitige Anwendung des Vertrages, nachdem im Oktober der EU-Handelsministerrat, das Gremium der Wirtschaftsminister der EU Mitgliedsstaaten, und das europäische Parlament darüber befunden haben werden, dennoch fordert die Regierungskoalition mehrheitlich eine parlamentarische Beratung über CETA. „Jetzt zu beschließen, dass die nationalen Parlamente zu diesem Handelsabkommen nichts zu sagen haben, ist unglaublich töricht“, sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Er sei zwar ein „Befürworter guter Handelsabkommen“, die EU-Kommission falle aber allen Gutwilligen in den Rücken. „Das Durchdrücken von CETA würde alle Verschwörungstheorien zu den geplanten Freihandelsabkommen explodieren lassen“, warnte der Vizekanzler. Er hätte auch sagen können: „Das Durchdrücken von CETA würde einige der sogenannten Verschwörungstheorien endgültig bestätigen.“
Mit der getätigten Aussage zeigt der SPD-Vorsitzende, dass er immer noch nicht verstanden hat, worum es bei der Kritik an den geplanten Handelsabkommen eigentlich geht. Die meisten CETA-Gegner kritisieren nicht das Freihandelskonzept per se, sondern die antidemokratischen Implikationen des Handelsvertrages – wie z.B. das Umgehen der unabhängigen Justiz, oder die „Legislaturbremse“, die es Staaten de facto schwer machen soll, Verbraucher- oder Umweltschutzgesetze zu verschärfen – und den undurchsichtigen Verhandlungsprozess. Ein Pseudo-Votum des Bundestages, bei dem nur über einen Bruchteil der CETA-Bestimmungen und nur mit „Ja oder Nein“ abgestimmt werden kann, würde daran auch nicht viel ändern. Stattdessen müsste den Parlamenten eine offene Debatte über jeden Punkt des Abkommens zustehen. Die wenigsten CETA-Kritiker sind verrückte Verschwörungstheoretiker, allerdings ist es durchaus legitim, misstrauisch zu sein, wenn derartig umfassende Abkommen hinter verschlossenen Türen verhandelt werden, insbesondere, wenn bekannt ist, welch freien Zugang die Brüsseler Konzernlobbyisten zu den Verhandlungsführern haben.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte nach dem ersten Tag des EU-Gipfels in Brüssel: „Wir werden den Bundestag um Meinungsbildung bitten“. Eine Abstimmung auf dieser Basis hätte allerdings einen gewissen Haken: Sie hätte keinerlei rechtliche Wirkung, sie wäre nichts als eine politische Blendgranate, die der Bevölkerung einen demokratischen Legislativprozess vorgaukeln soll. Richtigerweise erklärte Bundestagspräsident Lammert, nach geltendem Recht könne die Bundesregierung ihre Zustimmung nicht ohne Mitwirkung des Parlaments erteilen. Wenn schon Konzerninteressen via CETA zu europäischem Gesetz werden, sollten wenigstens die gewählten Volksvertreter darüber befinden dürfen.
Die nächsten Schritte.
Im Oktober sollen die Wirtschaftsminister der EU-Mitgliedsländer im Handelsministerrat über CETA befinden, danach muss die Ratifizierung durch das europäische Parlament stattfinden. Nach dem Wunsch der EU-Kommission wäre dann CETA von europäischer Seite aus beschlossene Sache. Noch könnten also sowohl der Ministerrat als auch das europäische Parlament CETA auf unbestimmte Zeit blockieren, was von einigen Regierungen scheinbar zumindest in Betracht gezogen wird.
Im Oktober soll nun der EU-Ministerrat, speziell der Handelsministerrat über CETA entscheiden, nach dem Willen der EU-Kommission müsste danach nur noch Das EU-Parlament zustimmen.
Die Worte des Herrn Juncker.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärte zur Debatte, die Vorstellung, nur nationale Parlamente gewährten demokratische Kontrolle, schwäche die Grundidee der EU. Eine mutige Aussage, wenn man bedenkt, dass Juncker ganz offensichtlich bewusst sein muss, wie beschränkt die Legislativmacht des Europaparlaments tatsächlich ist und wie viel Einfluss die 20.000 Konzernlobbyisten in Brüssel haben. Wie bereits erwähnt hätte er jedoch recht, wenn man dem EU-Parlament die volle Gesetzgebungsmacht in der Europäischen Union zuwies.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – Die Arroganz eines Politikers, der immer schon Konzerninteressen zu Gesetzen machte.
„Mir ist das persönlich relativ schnurzegal“, sagte Juncker schließlich. „Ich werde nicht auf dem Altar juristischer Fragen sterben.“ Er sagt das mit der schnippischen Arroganz eines Berufspolitikers, der sich in seiner gesamten Karriere nicht für „juristische Fragen“ interessiert hat und für den es ganz selbstverständlich ist die Interessen des Großkapitals in Gesetze zu schreiben. Als Premierminister von Luxemburg war er immerhin in nicht unerheblichem Maße genau dafür zuständig.
Unbestreitbar ist jedenfalls: Sollte CETA zum reinen EU-Handelsabkommen erklärt und an den nationalen Parlamenten vorbei gedrückt werden, ergäbe sich daraus für das kommende, umfassendere und noch umstrittenere Handelsabkommen TTIP mit den USA ein Präzedenzfall. Wenn CETA auf diese Weise verabschiedet werden kann, so werden auch alle künftigen internationalen Abkommen an den nationalen Volksvertretungen vorbei beschlossen!
Entgegen der Auffassung von Junckers EU-Kommission bedarf es nun zunächst ohnehin eines Moratoriums bei der Verhandlung internationaler Wirtschaftsabkommen, mindestens solange, bis entsprechende Abkommen mit dem Vereinigten Königreich geschlossen sind.
Spartacus Five bietet fünf redaktionell gesammelte Kurznachrichten des Tages, ausgewählt nach persönlichem Interesse.
Verbrechen: Attentäter plante Merkel zu ermorden.
Nach Aussage des ermittelnden Beamten im Falle des Attentats auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (CDU), hatte der Täter ursprünglich geplant Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Grund ihres Kurses in der Flüchtlingspolitik zu ermorden. Dies habe der verdächtige Frank S.bei seiner Erstvernehmung ausgesagt. Da es jedoch zu schwierig gewesen sei, an die Kanzlerin heran zu kommen, habe er sich stattdessen für die damalige OB-Kandidatin aus der selben Partei entschieden. Ziel sei es gewesen ein Zeichen gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin zu setzen. Henriette Reker war zuvor als Sozialdezernentin für die Unterbringung der Flüchtlinge in Köln zuständig, sie teilte den relativ liberalen Kurs der Kanzlerin. Vor Gericht gestand der mutmaßliche Täter den Angriff, bestritt aber jegliche Tötungsabsicht.
Verbrechen: Baggerfahrer in Florida vergräbt seinen Boss. Auf der Baustelle eines geplanten Walmart hat offenbar ein Bauarbeiter versucht seinen Vorgesetzten zu töten, indem er ihn mit mehreren Baggerladungen Erde übersäte. Das jedenfalls gab ein Zeuge an, der am Freitag die Polizei in Orlando alarmierte. Des Weiteren soll der Beschuldigte Bauarbeiter das Opfer mit einer Metallplatte angegriffen haben. Der Verdächtige wurde festgenommen und wegen Körperverletzung angeklagt, ist jedoch auf Bewährung frei, während sein mutmaßliches Opfer aufgrund einer Kopfverletzung operiert werden musste. Der 56-Jährige wird derzeit noch im Krankenhaus behandelt.
Kultur: Unesco-Generaldirektorin Bokova äußert Sorge über syrisches Kulturgut. Bei einem Gespräch im Auswärtigen Amt äußerte Unesco-Generaldirektorin Bokova am Freitag Bedenken ob der Situation der syrischen Kulturgüter nach Jahren des Krieges und der Plünderung. Zum nachhaltigen Schutz der Kulturgüter sollen unter Führung der UNESCO länder-und religionsübergreifend alle kompetenten Experten zusammengebracht werden. Langfristiges Ziel sei es, den Syrern die Möglichkeit zu geben, ihre alte Kultur wieder mit Leben zu füllen, die politische Ebene solle dabei ausgeklammert werden. Im Anschluss an das Gespräch zeichneten die Präsidentin des Deutschen Archäologischen Institutes (DAI), Prof. Dr. Friederike Fless, und der stellvertretende UNESCO Generaldirektor Franceso Bandarin eine Absichtserklärung zur engeren Kooperation beim Schutz und Erhalt des kulturellen und archäologischen Erbes in Syrien.
Wirtschaft: Stuttgart21 wird teurer und verspätet sich.
Die Stuttgart21 Gegner behalten Recht: Nach Informationen der Zeitschrift „der Spiegel“ werden die Kosten des Bahnprojektes wohl auf auf über 6,5 Milliarden Euro ansteigen und der geplante Fertigstellungstermin 2021 könne auch nicht eingehalten werden. Bis 2009 gingen Schätzungen der Bahn noch von etwa 3 Milliarden Euro aus, am Freitag wurde nun, ausgerechnet kurz nach der überpünktlichen Eröffnung des Schweizer Gotthard-Basistunnels, bekannt, dass sich die Kosten mehr als verdoppeln würden. Gründe hierfür seien unter anderem neue Auflagen für Sicherheit und Lärmschutz, die größere Umplanungen notwendig gemacht haben. Verbaut wurden in dem umstrittenen Großprojekt bisher „nur“ 1,5 Milliarden Euro, weniger als ein Viertel der nun geschätzten Kosten.
Verbrechen: Entführung eines mexikanischen Fußballspielers endet glimpflich. Dem am 28. Mai nach einer Party entführten Fußballspieler Alan Pudilo gelang offenbar bereits am folgenden aus eigener Kraft die Flucht, indem er einen seiner Entführer niederschlug. Die Entführer hatten von Pudilos Familie umgerechnet 300.000$ Lösegeld verlangt, welches nun selbstverständlich nicht gezahlt wurde. Der Mexikaner Alan Pudilo spielt derzeit für die griechische Mannschaft Olympiakos Piräus.