Arnsdorf (Sachsen). „Es ist schon schade, dass man ’ne Bürgerwehr braucht, oder?“ Kommentiert eine anonyme Filmemacherin aus Arnsdorf im Landkreis Bautzen ihr pixeliges Machwerk, das einige junge Männer dabei zeigt, wie sie einen offenbar geistig Verwirrten aus dem Netto-Markt prügeln. Der Vorfall ereignete sich schon am 21. Mai, wurde nun aber einer breiteren Öffentlichkeit bekannt durch das Video der Unbekannten. Je nach Erzählung wird dem 21-jährigen Iraker, der in einer örtlichen Psychiatrie behandelt wird, entweder Betrug oder Diebstahl vorgeworfen. Dies schließt die zuständige Polizei derzeit allerdings aus.
Wahr ist dagegen, dass der geistig Verwirrte Mann sich an jenem Tag mehrfach aggressiv über eine gekaufte Prepaid-Karte beschwerte. Die Verständigung mit den Filialmitarbeitern des Netto-Marktes war ihm offenbar nicht möglich, zweimal wurde die Polizei gerufen, die den Asylbewerber zurück in die Klinik brachte. Beim dritten mal, der junge Mann war mittlerweile noch wütender, tauchten plötzlich einige Männer in schwarzen T-Shirts auf (laut Zeugenaussagen mit der Aufschrift „Bürgerwehr“, dies ist im Video höchstens zu erahnen). Diese packen den Iraker ziemlich grob an und befördern ihn unter Schlägen, Tritten und Beleidigungen nach draußen (dies wiederum ist im Video zu sehen). Sie fesselten ihn dann an einen Baum und riefen wiederum die Polizei, welche zunächst auf beiden Seiten kein Fehlverhalten feststellen konnte. Schließlich ist es gesetzlich erlaubt eine Person, die im Verdacht steht, eine Straftat begangen zu haben, festzuhalten bis zum Eintreffen der Polizei. Dabei habe das im späteren Video Gezeigte keine Rolle gespielt. Also habe man davon ausgehen müssen, dass das Handeln derjenigen, die den jungen Iraker festgehalten hatten, gerechtfertigt gewesen sei. Nun sehe die Geschichte schon etwas anders aus, nicht erlaubt ist nämlich der unnötig drastische Gebrauch von Gewalt, den das Video eindeutig belegt.

Nun wird gegen die beteiligten Mitglieder der selbsternannten „Bürgerwehr“ ermittelt, unter anderem gegen den Arnsdorfer CDU-Gemeinderat Detlef Oelsner, der sich im Recht sieht. Es werde derzeit geprüft, ob die getroffenen Maßnahmen überzogen gewesen seien.
Klar ist jedenfalls, die vermeintlichen Straftaten des Irakers waren eine politische Lüge, die wohl nicht nur den „Einsatz“ der selbsternannten „Bürgerwehr“ rechtfertigen soll, sondern auch die Notwendigkeit derselben propagiert. Eine politische Lüge, wie es dieser Tage viele gibt. Sogenannte Bürgerwehren publizieren in ganz Deutschland, vornehmlich aber im Osten mit schöner Regelmäßigkeit Geschichten von raubenden, vergewaltigenden oder brandschatzenden Asylbewerbern. Diese sind zumeist fiktiv oder aber maßlos übertrieben. Das Ziel ist klar: Einerseits sollen Mitglieder geworben werden, andererseits sollen die eigenen Machenschaften gerechtfertigt werden. Ein Vorgehen, wie es auch die nationalsozialistische SA in ihren ersten Jahren kannte, ohne allerdings das mächtige Propagandawerkzeug namens Internet zur Verfügung zu haben.
Die Website hoaxmap.org sammelt nun seit Februar derlei Propaganda-Geschichten und zeigt setzt sie in geographischen Kontext. 385 zweifelsfrei widerlegte Lügen hat sie bereits zusammengetragen und veröffentlicht. Experten aus Polizei und Medien sind sich einig, dass diese Gerüchte und Lügen von den Bürgerwehren entweder bewusst für ihre Zwecke genutzt und verstärkt oder eigens gestreut werden. Oliver Malchow von der Polizeigewerkschaft meint dazu beispielsweise: „Gerüchte und Fantasien spielen bei der Mobilisierung von Bürgerwehren eine Rolle.“ So werde eine gefühlte Bedrohung aufgebaut, die sowohl zur gehäuften Beantragung von Waffenscheinen als auch zur vermehrten Gründung von Bürgerwehren geführt habe. Für den Rechtsstaat sei dies fatal. Nicht ganz unironisch ist an dieser Stelle zu bemerken, dass es mitunter jene Gesellschaftssubjekte sind, die auf PEGIDA-Demonstrationen am lautesten „Lügenpresse“ brüllen, welche dann die absurdesten Gerüchte über Asylbewerber in die Welt setzen. Ob die Beteiligten diese Ironie erkennen und sich über unsereins kaputt lachen?

Während eine kleine Anfrage der Linksfraktion an die Bundesregierung ergab, dass sich 2015 bereits in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Sachsen-Anhalt mindestens sieben sogenannte Bürgerwehren gegründet hatten, ist allerdings den Bürgern von Arnsdorf keine solche Organisation bekannt. Die beteiligten Männer stammten nach Aussagen mehrerer Zeugen von PEGIDA, AfD und Co. Teilweise kämen sie gar nicht aus Arnsdorf, sondern aus umliegenden Dörfern. Bekannt ist allerdings, dass der ansässige AfD-Gemeinderat Arvid Samtleben eine solche Selbstjustiz-Einheit gründen möchte, wogegen sich allerdings durchaus Widerstand in der 4700-Seelen-Gemeinde regt.
So zum Beispiel von den Schneidemantel-Zwillingen, ihrerseits unabhängige Mitglieder des Arnsdorfer Gemeinderates. Sie haben es sich offenbar nach Bekanntwerden des Videos zur Aufgabe gemacht die Ehre ihrer Gemeinde wiederherzustellen (und ein kleines bisschen Rampenlicht abzubekommen). Sie halten jedenfalls die ganze Aktion für ein abgekartetes Spiel: Nicht nur zufällig sei jemand anwesend gewesen, der den Vorfall gefilmt habe, nicht zufällig sei die sogenannte Bürgerwehr zu diesem Zeitpunkt im Netto-Markt aufgetaucht. Sie könnten Recht behalten.

Nicht zuletzt der unverhältnismäßig ruhige Ton, in dem die Filmemacherin ihr Werk kommentiert, weist auf ein Mindestmaß an Vorbereitung hin. Auch dass der Bürgerwehr-Befürworter Samtleben behauptet, die Filmemacherin zu kennen und dass seine Frau (ein ehemaliges Mitglied der rechtsradikalen Organisation „die Freiheit“ zur entsprechenden Zeit in der Netto-Filiale anwesend war, legt den Verdacht nahe, es könnte sich um ein weiteres Pro-Bürgerwehr Propaganda-Filmchen handeln. Aber was weiß ich schon. Jedenfalls bin ich ziemlich sicher, dass wir in Deutschland keine neue SA brauchen, egal wie gern der AfD-Gemeinderat in Arnsbach eine Leibstandarte Samtleben sähe.
Die Filialmitarbeiter des Netto.Marktes sagten übrigens alle überzeugend aus, sie hätten nur die Polizei, nicht aber die „Bürgerwehr“ zur Hilfe gerufen.
„Wir nehmen den Vorfall sehr ernst und prüfen diesen aktuell. Nach erster Rücksprache mit unseren Filialmitarbeitern wurden die Personen mit den schwarzen T-Shirts und den Aufdruck „Bürgerwehr“ von keinem Netto-Mitarbeiter gerufen. Aktuell werden die Ereignisse noch vor Ort geprüft. Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir unsere Kunden unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht oder Alter gleich behandeln. Sollte es zu einem Diebstahl kommen, rufen unsere Kollegen grundsätzlich die Polizei. Das gezeigte Vorgehen im Video widerspricht unseren Unternehmensvorgaben und wird von Netto Marken-Discount in keiner Weise gebilligt.“ – Offizielle Einlassung von Netto Marken-Dicount
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